Antonias Rückkehr
Ich kann es noch nicht glauben.
Anfangs herrschte Euphorie. Der Produzent war ungewöhnlich heiter und ausgelassen, und das, obwohl er gerade im Begriff ist, das Studio aufzulösen, weil das Haus, in dem es sich befindet, verkauft werden soll.
„Umso besser!“ sagt er „Neue Räume, neue Ideen.“
Dass das fehlende Geld ein reales Problem darstellen könnte, glaubt er nicht.
„Die Inhalte, die Absicht und die Überzeugung machen eine kärgliche Ausstattung wett.“ sagt er „Die Sache ist elementar. Wenn wir beginnen, sie nach außen zu tragen, wird uns das nötige Material zufließen.“
Ich nenne das naive esoterische Verklärung, auch wenn ich es gerne für wahr hielte. Mir gefällt allerdings die Idee, dass stark reduzierte Möglichkeiten zur Einfachheit zwingen. Und irgendwie hänge ich an dem Projekt, teils aus der Begeisterung, die sich bei dem Gedanken einstellt, es könnte wahr – und fertig werden, teils aus einer eher unfreiwilligen Besessenheit. Es ist und bleibt mein wichtigstes Thema, auch wenn ich nach wie vor versuche, mich anderen Dingen zuzuwenden, weil ihm etwas Unanständiges, Widerliches anhängt und ich Zweifel habe, ob sich dafür überhaupt eine Öffentlichkeit finden wird. Und dass wir damit an die Öffentlichkeit treten wollen, leugnet inzwischen keiner der Beteiligten mehr.
Antonia jedenfalls tauchte im Studio auf, forderte die Weiterführung der Aufnahmen und sprach mit verklärter Mine von einem möglichen Happy Ending (Eine halbamerikanische Schulfreundin hatte vor Urzeiten einmal gesagt, das sei der korrekte englische Begriff. Bei den Anglophonen gebe es kein Happy End. Eine Sprachfetischistin merkt sich eine solch minimalistische Aussage ein Leben lang.)
„Es gibt Heilung!“ sagte sie „Wir können der Verdammnis entkommen und in die Erlösung übergehen. Das Glück und die Dankbarkeit, die wir dann empfinden, ist ebenso tief, wie unsere einstmalige Verzweiflung und Finsternis. Ein Geschenk!“
„Die Therapie war also erfolgreich?“ fragte der Produzent.
„Ja“ sagte Antonia „Sie hat mich erfolgreich vom Glauben an die Schulpsychologie geheilt. Ein Schritt in die Unabhängigkeit und raus aus der Krankheitsidentität. Wenn das kein Gewinn ist! Und ich habe es überlebt!“ Ihre Wangen glühten, sie strahlte uns an, entzückend rosig und überdreht.
„Wir müssen das Konzept ändern“ sagte sie „Weg von der Verallgemeinerung, hin zum persönlichen Erleben. Und ich sage euch: je persönlicher wir erzählen, desto allgemeingültiger wird die Sache. Mikrokosmos, Makrokosmos, alles eins! Und Chronologie ist langweilig. Ich will hinten anfangen, oder besser vorne. Jetzt. Denn von hier aus sieht die ganze Geschichte völlig verändert aus.“
Bedrängt von ihrer hochemotionalen, intensiven Erscheinung fragte ich nach Igor, seiner Haltung dazu. Mir fehlte seine ruhige, weniger aufgeladene Stimme.
„Frag ihn doch selber!“ sagte sie und verweigerte jede weitere Aussage über die in gut zwei Jahren durchlaufenen Prozesse und Erkenntnisse, solange die Wiederaufnahme des Projektes nicht zugesagt sei. So viel nur, dass es ein Tagebuch gebe, das sie während des Klinikaufenthaltes geführt habe. 56 Tage. Man könne sich das mal durchlesen. Einige hübsch formulierte Gedanken seien da sicher zu finden. Es beschreibe aber lediglich die fortschreitende Manifestierung ihrer Seelenqual und sei für das erneute Aufkeimen ihres Lebenswillen nur insofern von Bedeutung, als es zeige, wie nah sie dem Tod gekommen sei. Das nehme sie wenigstens an, denn sie habe es noch nicht fertig gebracht, die Texte vollständig durchzuarbeiten.
Woher die einstweilige Rettung gekommen sei, wollte sie noch nicht verraten.
„Einstweilig? Na, vielen Dank! Richtig ernst nehmen kannst Du mich wohl nicht.“ sagte sie, drehte sich um und verließ ohne Abschied das Studio.
„Ziemlich mimosenhaft.“ sagte ich mit einem Blick zum Produzenten.
Dem stand eine senkrechte Falte auf der Stirn.
„Hoffentlich hast du sie mit deinem unsensiblen Verhalten und deiner ewigen Zweifelei nicht ganz vertrieben!“ sagte er.
„Ich habe das doch gar nicht geäußert!“ sagte ich.
„Und ob! Außerdem stand es dir im Gesicht geschrieben.“ sagte er und ließ mich ebenfalls stehen.
Erst jetzt fiel mir auf, dass er während der ganzen Begegnung nicht eine einzige Zigarette geraucht oder auch nur gedreht hatte.
Es kam tatsächlich lange keine Meldung mehr, weder von Antonia noch von Igor. Sie waren auch nicht zu erreichen. Zufall oder Absicht? Ich konnte nicht aufhören, darüber nachzudenken, ob ich mich falsch verhalten, die Sache verdorben hatte, oder ob es gut und wichtig sei, meinem Zweifel seinen Raum zu geben, damit das Vorhaben auch auf Dauer meinem Skeptizismus standhielte. Die Beräumung des Studios konnte mich von meinem Bedauern und meiner Unruhe nicht ablenken. Ich bekam Kopfschmerzen.
Gestern aber erreichte mich die Datei des Kliniktagebuches.
Ich bin so erleichtert, dass ich mich mit Vergnügen auf die Texte stürze.
Der Produzent will ein provisorisches Studio einrichten, um die Gespräche fortzusetzen.
Sagen wir, es geht weiter.